Alice, ein viktorianischer Punk im Wunderland | TagesWoche (2024)

1865 wurde es geschrieben, seither findet man «Alice’s Adventures in Wonderland» in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. Am 26. November feiert die Buchheldin ihren 150. Geburtstag. Zeit für einen eigenen Rundgang im Wunderland.

150 Jahre alt wird Alice diesen November, die Heldin des Kinderbuch-Klassikers «Alice’s Adventures in Wonderland» und dessen Fortsetzung «Through the Looking Glass». Anthropomorphe Tiere und viel Nonsens verhalfen der Geschichte zu zeitlosem Erfolg bei jungen Lesern, Wortwitz und Doppeldeutigkeit unterhalten bis heute die Erwachsenen. Seit seiner Erstausgabe am 26. November 1865 befindet sich das Buch ununterbrochen im Druck. Schriftsteller, Musiker und Maler liessen sich von Lewis Carrolls surrealer Parabel auf das Leben inspirieren und schufen Werke in Anlehnung an «Alice im Wunderland». Das Kindermärchen wird neben der Bibel und den Werken Shakespeares als das meistzitierte Buch der Welt gehandelt.

Ab in den Bau

Angefangen hat alles an einem Sommernachmittag in Oxford, genauer genommen am 4. Juli 1862. Charles Dodgson unternahm einen Ausflug mit den Kindern seines Freundes Henry Liddell. Dessen Kinder Lorina, Edith und Alice sassen mit dem Familienfreund in einem Boot, und während er sie den Fluss hinaufruderte, erzählte er ihnen eine Geschichte, um die Zeit zu vertreiben. Er erzählte den Kindern die Geschichte von Alice und ihren Abenteuern im Wunderland.

Alice, ein viktorianischer Punk im Wunderland | TagesWoche (1)

Die wahre Alice, fotografiert von Lewis Carroll. Eine Freundschaft, die später für viel Zündstoff sorgte.

Begeistert von der Erzählung bat Alice Liddell Dodgson, die Geschichte doch aufzuschreiben. Sie hätte gerne noch mehr gehört, nachdem der Nachmittag vorbei war. Sie sollte ihren Willen bekommen. Zwei Jahre später schenkte er ihr zu Weihnachten ein gebundenes Buch mit Illustrationen, in denen sie die Abenteuer von Alice nachlesen konnte.

Die junge Alice schläft eines Nachmittags gelangweilt neben ihrer Schwester ein, die ein Buch liest, «ohne Konversationen oder Bilder», und wozu soll so ein Buch schon taugen? Darauf folgt Alices Fall durch einen Kaninchenbau in eine Traumwelt hinab, wo alle verrückt scheinen. Sie trifft auf wunderliche Gestalten, wird Teilnehmerin an einer verrückten Teeparty und einem nicht minder wahnsinnig erscheinenden Cricketspiel und muss sich zuletzt der tyrannischen Herzkönigin stellen, die wegen ihrer ausgesprochen niedrigen Frustrationstoleranz rasch einmal zur Enthauptung ihrer Untertanen aufruft.

Seelenklempner, Drogenenthusiast oder doch pädophil?

Um die Identität der «echten» Alice wurde nie ein Geheimnis gemacht. «Alice in Wonderland» sowie die Fortsetzung «Through the Looking Glass waren Alice Lidell gewidmet, der Geburtstag von Liddell und der Protagonistin im Buch stimmen überein, die beiden Alices sind gleich alt. Was Wissenschaftler und Journalisten hingegen schon lange beschäftigt, sind etwaige versteckte Botschaften im Buch und das Verhältnis von Dodgson zu Alice.

Dodgson war Mathematiklehrer am Christ Church College in Oxford. Dort lernte er die auf dem Gelände wohnhafte Familie des Dekans Henry Liddell kennen und blieb jahrelang in engem Kontakt mit ihr. Neben seiner Karriere als Mathematiker war Dodgson unter seinem Pseudonym Lewis Carroll als Autor tätig, zeichnete und fotografierte. Seine vielen Bekanntschaften mit Kindern liessen im späten 20. Jahrhundert Fragen zu seiner Sexualität aufkommen.

Er wurde, wie seine Bücher, über die Jahre hinweg unter der ständig wechselnden Linse der Populärwissenschaft betrachtet und auseinandergenommen. In den Dreissigerjahren versuchten sich Psychoanalytiker am Stoff und zerpsychologisierten das Stück mit einer Sorgfalt, dass Sigmund Freud Freudentränen in die Augen geschossen wären. In den Sechzigern kamen die LSD-Enthusiasten, welche im Buch Hinweise auf einen Opiumkonsum Carrolls zu erkennen glaubten und in den Neunzigern wurde mit der Untersuchung begonnen,ob Carroll pädophil gewesen sei. Eine Frage, die Historiker und Literaturforscher heute spaltet, wie eine aktuelle Dokumentation des BBC zeigt.

Unsterbliche Alice

Dodgson hat seiner Inspiration Alice Liddell zu Lebzeiten ein Denkmal geschaffen. Viele Künstler taten dies für seine Wunderland-Bücher. Sie inspirierten literarische Werke wie James Joyces «Ulysses», politische Parodien, Disney-Filme bis zur bildenden Kunst:Salvador Dalímalte eine von «Alice» inspirierte Serie von Illustrationen.

In den Sechzigern und Siebzigern erlebte der Stoff in der Psychedelic-Music-Szene erneut ein Comeback:

Das Wunderland ist auch Medizinern ein Begriff. Das Alice-im-Wunderland-Syndrom(AWLS) bezeichnet ein harmloses neurologisches Phänomen, welches zu vorübergehenden Wahrnehmungsstörungen führt. Es tritt bei extremer Übermüdung, Migräneanfällen – oder Acid-Flashbacks – auf und kann das Gefühl für Distanz, Zeit und Grösse von Objekten beeinträchtigen. Dinge erscheinen viel grösser oder kleiner, als sie es in Wirklichkeit sind. Nach einer Weile verschwinden die Symptome von selbst wieder.Wer ausprobieren möchte, wie sich das anfühlt, kann einmal versuchen ein paar Schritte in der Wohnung zu gehen, während er durch einen umgekehrten Feldstecher schaut.

Alice, der intellektuelle Punk

Woran liegts, dass der «Alice»-Stoff bis heute nichts an Faszination eingebüsst hat? Der Grund dafür liegt bei der Protagonistin selbst. «But if I’m not the same, the next question is, who in the world am I?», wundert sich Alice nach ihrer Ankunft im Wunderland. «Wer bin ich?» Eine Frage, deren Antwort Menschen seit der Existenz der Zivilisation beschäftigt. Wir alle sind ein wenig wie Alice:Die Frage nach der wahren Identität und dem Platz in einer scheinbar verrückt gewordenen Welt, mit teilweise absurden Gesetzen, taucht im Kindesalter auf und lässt sich nicht beantworten, indem man zu allem, was die Erwachsenen sagen, brav lächelt und mit dem Kopf nickt.

Während die Bewohner des Wunderlandes ständig Zweifel an Alices psychischer Gesundheit äussern, lässt diese sich nicht beirren und stellt weiterhin alles und jeden, der ihr begegnet, infrage. Für viktorianische Standards eine doch eher unhöfliche Eigenschaft, zeigt sie doch, dass Alice die Erwachsenen, mit denen sie im Wunderland zu tun hat, nicht automatisch als intellektuell überlegen und kompetent akzeptiert.

Alice ist eine Rebellin, jedoch nicht frech und ungestüm, wie die ungezogenen Bälger in der Horrorpädagogik derStruwwelpeter-Bücherfür unartige Kinder. Alice ist stets sehr auf ihre Manieren bedacht, ihre Rebellion vollzieht sich auf intellektueller Ebene: Eine viktorianische Skeptikerin, ein wissbegieriges Kind, das pausenlos hinterfragt.

150 Jahre, nachdem Alice ihre Reise den Kaninchenbau hinab ins Wunderland angetreten hat, stiefelt sie immer noch im Untergrund herum und fordert uns mit ihrer Fragerei heraus, allgemein akzeptierte Wahrheiten und Regeln zu hinterfragen. Ihr Geburtstag wäre eine schöne Gelegenheit, das «Alice»-Buch aufzuschlagen und ihr einen Besuch abzustatten.

Alice, ein viktorianischer Punk im Wunderland | TagesWoche (2024)

FAQs

What does Alice from Alice in Wonderland say? ›

“I'm sorry, but how can one possibly pay attention to a book with no pictures in it?” “If I had a world of my own, everything would be nonsense.” “Curiouser and curiouser!” “I was just giving myself some good advice.”

What does Alice in Wonderland represent? ›

One of the most significant themes in Alice in Wonderland is the importance of embracing your true self. Alice struggles with the expectations and constraints placed on her by society. As she navigates the strange and unpredictable world of Wonderland, she learns to embrace her unique qualities and strengths.

What is the most famous line in Alice in Wonderland? ›

The best of Alice in Wonderland

Alice: "If I had a world of my own, everything would be nonsense. Nothing would be what it is because everything would be what it isn't. And contrariwise, what it is, it wouldn't be, and what it wouldn't be, it would.

What is the secret Alice quote? ›

The secret, Alice, is to surround yourself with people who make your heart smile. It's then, only then, that you'll find Wonderland.

Is Alice in Wonderland dark? ›

Alice in Wonderland definitely has a dark side. Carroll sees childhood as a dangerous place, shadowed by the threat of death. The Queen of Hearts ritually demands everyone's head, especially Alice's – “Off with her head!” The adults in Wonderland are powerful, but often absurd.

What is the secret meaning behind Alice in Wonderland? ›

According to some interpretations, the carpenter is Jesus and the walrus Peter, with the oysters as disciples. Others insist that it's about Empire, with the walrus and the carpenter representing England, and the oysters its colonies.

What's the moral of Alice in Wonderland? ›

While Alice's adventure might seem mad on the surface, its main goal is answering the Caterpillar's question and figuring out the greatest puzzle of all – "who in the world am I?". Life can also seem mad but by discovering who we are, and accepting ourselves, assures a much smoother ride through our own journey.

What does Alice in Wonderland say words mean whatever? ›

“Must a name mean something?” Alice asks Humpty Dumpty, only to get this answer: “When I use a word… it means just what I choose it to mean – neither more nor less.”

What does the Alice in Wonderland rabbit say? ›

White Rabbit: I'm late, I'm late, for a very important date! No time to say "Hello, Good Bye" I'm late, I'm late, I'm late!

What are some quotes that Alice Walker said? ›

Alice Walker Quotes. No person is your friend who demands your silence, or denies your right to grow. The most common way people give up their power is by thinking they don't have any. I think it pisses God off if you walk by the color purple in a field somewhere and don't notice it.

What does Alice say to the Queen of Hearts? ›

said the Queen, tossing her head impatiently; and, turning to Alice, she went on, `What's your name, child?' `My name is Alice, so please your Majesty,' said Alice very politely; but she added, to herself, `Why, they're only a pack of cards, after all. I needn't be afraid of them!' `And who are these?'

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Author: Kareem Mueller DO

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